Welt der
Bücher und Zeitschriften – Esperanto und andere Plansprachen
Aktuelles, Wissens- und Bedenkenswertes aus der
Deutschen Esperanto-Bibliothek Aalen
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:
Erscheinungstag von Esperanto aktuell 4!(2022)275(05)
Folge {projektiert als 67}:
„neniam plu!‟ –
„nie wieder!‟
(0)
– diese
Seiten sind vorerst nur Platzhalter für einen Text in Esperanto aktuell
41(2022)№275/Heft5
Neniam plu! Nie wieder! – das ist leicht gesagt …
Diese Forderung „nie wieder!“, besonders nach dem 2. Weltkrieg,
war ja nicht gerade ein essenzieller Teil meiner Jugend in den 50er und 60er Jahren, einer Zeit,
in der viele Beamte aus der unseligen Vorkriegszeit einfacher weiter oder wieder als Staatsdiener tätig waren.
Im Rückblick muss man sich wundern, wie blauäugig und unkritisch man sich da gab.
Erst ein intensiver Besuch der Jerusalemer Gedenkstätte
(Jad Vashem, Hand
& Name, Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust) motivierte zu einem nachhaltigeren Überdenken
unserer Geschichte, die ich als Nachgeborener ja nicht mitzuverantworten hatte, wie ich dachte.
Im Nachgang dazu hinterließen auch virtuelle Besuche in unserem Bundestag(1)
ihre tiefen Eindrücke. Soweit, so gut: nie wieder Krieg, kein Antisemitismus, kein Rassenhass mehr!
Was mich an der Nazizeit ja viel mehr aufregte (und ich habe dazu ausführlich schon in Esperanto aktuell
geschrieben – es ist zwar lange her(2),
und doch noch wie gerade erst formuliert in der Erinnerung), das waren diese
unsägliĉen und unseligen Bücherverbrennungen.
Man ist geneigt zu denken: das ist kaum noch so aktuell, dass man es thematisieren soll und muss.
Wirklich? „woke“ ist nun mal nicht „en vogue“ (esti vekite atenta ne estas avangarda trajto) –
zumindest nicht (mehr) in Europa.
Und doch ist das Phänomen nichts Neues, sondern entstammt dem afroamerikanischen Englisch der 30er Jahre,
als das Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit erwachte. Neu aufgeflammt ist es (leider)
durch die Todesfälle farbiger Bürger in den USA, seit 2014. Man kennt es besser unter dem Schlagwort
„black lives matter“.
Wenn mir da Heines alte Warnung „dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“
wieder in den Sinn kommt, ist dies kein Zufall, auch wenn entsprechende Vorfälle nicht öffentlich breit getreten werden.
Indizien könnten etwa sein, dass aus immer mehr Bibliotheken immer mehr Titel verschwinden;
dass man Shakespeares „Sommernachtstraum“ klassistische Inhalt vorwirft oder Strindbergs „Fräulein Julie“
aus Leselisten eliminiert, weil es von Selbstmord handle. Wer mehr Information dazu sucht,
der informiere sich über die cancel-culture an britischen Universitäten!
In der österreichischen Tageszeitung Standard las man am 23.8.22:
Im Juni ließ die Autorin Margaret Atwood eine feuerfeste Version ihres Bestsellers „Der Report der Magd“ (1985)
versteigern, um auf die grassierende „Zensur“ literarischer Werke in den USA aufmerksam zu machen.
Auch eine Auszeichnung schützt da nicht,
Kanonisierung ebenso wenig,
und Faktizität hilft auch nicht,
wenn eine Abstrafung droht.
Das zeigte sich Anfang dieses Jahres an dem Comic „Die vollständige Maus“ von Art Spiegelman, der ja 1992 als erster Comic-Autor dafür einen Pulitzer-Preis(3) erhalten hatte.
Ganz kurz zum Inhalt:
Dieser Comic erzählt vom Leben des Vaters Wladek Spiegelman, der ein polnischer Jude war.
Er ist in schwarz-weiß gehalten und als Fabel gestaltet. Jede Gruppe wird durch ein Tier repräsentiert:
Katzen stellen die Nazis, Mäuse die Juden, Schweine die Polen(4),
Frösche die Franzosen, Rentiere die Schweden, Fische die Briten und Hunde die Amerikaner dar.
Art(hur) besucht seinen Vater Wladek, um mehr über Holocaust und Auschwitz zu erfahren.
Und Wladek berichtet seinem Sohn vom deutschen Einmarsch und deren Sieg, auch von den Untaten
gegenüber den dortigen Juden. Nachdem er und seine Familie alles verloren und einige Fluchten
überwunden hatten, kamen sie schließlich doch in ein Konzentrationslager.
Dann geschieht es eines Tages: Wladek und seine Frau Anja werden nach Auschwitz deportiert.
„Von da“, so wissen sie, „kommt man nur durch den Schornstein wieder hinaus“.
Doch kurz bevor sich das schreckliche Schicksal für Wladek und Anja in Auschwitz erfüllt, werden sie
durch die Alliierten gerettet.
Die Tragik zeigt sich dann am Ende der Geschichte: der Vater hatte die Tagebücher der Mutter verbrannt,
obwohl sie doch noch davon gesagt hatte, sie wünsche sich, dass ihr Sohn sie eines Tages lesen möge.
Und der Vater selbst gesteht es dann ein: „es ist eine Schande!“
Abschließend nennt der Sohn sogar seinen Vater Mörder.
Mich hat dieser Comic sehr berührt, und gewiss wäre er es wert, auch in Esperanto gelesen zu werden,
so in einer Art Gegen-Aktion! Im Moment kenne ich jedoch keinen, der dies unternehmen möchte,
leider (ich bin kein anglofoner Muttersprachler …).
Die Reaktionen einzelner Polen mag man belächeln, wohl nicht so recht die deutscher Behörden: Ein 1990 für den Comic-Salon Erlangen hergestelltes Plakat für
„Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ wurde 1995 wegen angeblicher Nazi-Propaganda beschlagnahmt (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, § 86a StGB).
Das warf die Frage auf: „Darf Holocaust im Comic verarbeitet werden?“, die man zunächst so beantworten wollte:
dies sei nicht möglich, reiche nicht an den realen Schrecken des Holocaust heran und sei
somit notwendigerweise stets verharmlosend und trivialisierend,
so lautete der zentrale Vorwurf.
Erst am 5. April 2001 endete vor dem Landgericht Meiningen das über sechs Jahre dauernde „Meininger Zensur-Verfahren“;
der Verlag akzeptierte einen Vergleich samt Geldbuße von 15.000 DM, aber
„gleichwohl stehen wir vor den Trümmern unserer Arbeit. Mit Gerechtigkeit
hat das alles wenig bis gar nichts zu tun“.
Heute liest man bei der Bundeszentrale für politische Bildung: „Das Genre des Holocaustcomics
kann einen Beitrag zur historischen und gesellschaftspolitischen Erinnerungsarbeit leisten.
Die spezifischen, mehr-dimensionalen Möglichkeiten der Bildgeschichte nutzend, ist der Comic
durch die ihm eigene Erzählstrategie der Gleichzeitigkeit in der Lage, Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft nach Belieben zu vereinen und dadurch eine besondere Perspektive zu bieten.
Raum und Zeit
sind für die Gattung des grafischen Erzählens jederzeit überwindbare Hürden
– wie gerade „Maus“ belegt, wo der Autor häufig zwischen der Vergangenheit (den Erzählungen
des Vaters über seine Erlebnisse während der Shoah) und der Gegenwart (dem Vater-Sohn-Konflikt)
hin und her wechselt – und sich mit der Verarbeitung der Zweifel an seinem Projekt zugleich
Metafragen gestattet, die in die Zukunft reichen.“
Weiter: „Holocaustcomics stellen einen wichtigen Bestandteil moderner Erinnerungs-arbeit und Medienpädagogik dar:
Gerade für Kinder und Jugendliche eignen sie sich als Zugang zum Thema der Shoah. Insbesondere biografische
Holocaustcomics vermögen Saul Friedländers Credo „Gebt der Erinnerung einen Namen“ zu verwirklichen.“
Und was hatten die Zensuristen im Jahre 2022 zu bemängeln? Eine Schulbehörde im Bundesstaat Tennessee ließ
ihn aus Bibliotheken verschwinden, der Grund: „wegen seiner anstößigen Sprache“, z.B. Schimpfwörter
wie „God Damn“ (verdammt) oder das Bild einer nackten Toten.
Leider ist dieser Trend wieder nach Europa zurückgekommen: auf der britischen Insel bekennen sich Universitäten dazu,
herausfordernde Inhalte zu vermeiden, um ihre Studierenden zu schützen. 1081 Texte wurden in vielen Studiengängen
mit sog. Trigger-Warnungen versehen oder gar von Pflichtlektüre zu optionaler herab gestuft. Mindestens 10 Institutionen
haben Bücher zu Themen wie Sklaverei oder Suizid aus Leselisten entfernt.
Anfangs hatte ich beispielhaft ein paar Indizien aufgeführt, für eine Gefährdung, die unserer klassischen Literatur
drohe. Ich möchte hier ein paar weitere nennen:
In Bordeaux durfte eine Philosophin nicht gegen die Leihmutterschaft argumentieren, weil das homophob sei.
Wegen Islamophobie und Rassismus wurde an der Sorbonne ein Seminar über die „Anzeichen von Radikalisierung“
und die Aufführung eines Stücks von Aischylos mit schwarzgeschminkten Darstellern verboten.
Eine Oxford-Dozentin berichtete, ihre Studierenden möchten gewarnt werden, „wenn eine Stelle naht,
die irgendetwas in ihnen anrichten könnte“, zum Beispiel die Vergewaltigung Lavinias in Shakespeares
„Titus Andronicus“. Auch Dickens steht auf diesen Listen.
2019 wehrte sich eine österreichische Hochschule gegen den Auftritt der Feministin Alice Schwarzer und schrieb ihr
"antimuslimischen Rassismus" zu: Schwarzer habe sich mehrfach „sexarbeitsfeindlich, transphob und antimuslimisch-rassistisch geäußert“.
Und ganz pervers wird es meiner Ansicht nach, wenn damit argumentiert, man müsse seine „Rolle als Bildungseinrichtung
ernst nehmen“ (indem man kontroverse Positionen vermeidet, etwa durch Zensieren und Verbote?).
So werden neuerdings auch Werke von Jane Austen, Charlotte Brontë und Agatha Christie mit der Warnung versehen,
dass Leser sich vom Inhalt gestört fühlen könnten: wegen Sexismus, Rassismus oder Tierleid.
Derlei Eingriffe in die Literatur zeigen bereits weitreichende Folgen. Eine Umfrage unter britischen Studenten ergab,
dass sie heute weniger tolerant gegenüber anderen Meinungen sind als noch vor sechs Jahren.
Einschränkungen der freien Rede werden häufiger befürwortet.
Dieses „hochbedenkliche, sich selbst verstärkende System“ ist eine Entwicklung,
vor der man nicht genug warnen kann, so zumindest meine Einschätzung.
Comics dürfen auch spannend und unterhaltsam sein, sollen laut Kunstdidaktiker Dietrich Grünewald
aber auch schockieren: „Es ist richtig und nötig, der jungen Zielgruppe Historie zuzumuten“.
Solange eine Bildergeschichte die Anbindung an die Realität klar macht und die Leserschaft
in der Position eines „Nie wieder“ bestärkt, helfen Bilder.
Mein Beitrag fürs Heft 5 wurde rechtzeitig fertig und so zurechtgestutzt, dass er auf 2 Seiten passen sollte.
Was noch anstand, war eine letzte Durchsicht, die in Ruhe am Wochenende erfolgen sollte,
um offensichtliche Fehler ausmerzen zu können.
Dabei stellten sich mir Fragen: sind das nicht schon Anzeichen von Paranoia, wenn ich überall Zensur
und Bücherverbrennungen am Werk sehe; müssen wir uns in der heutigen Zeit wirklich immer noch
mit den Altlasten unserer NS-Zeit herumschlagen?
Bücher verbrennen – fest verankert in manchen Köpfen?
Bücher zu verbrennen scheint sehr fest in manchen Köpfen verankert zu sein.
Und ich denke dabei nicht nur an die traurige Fußnote (4),
für die ich als Beleg zunächst nur
die Behauptung der Wikipedia(5)
gefunden hatte; 2008 bei einem Interview sagte das auch
Spiegelman(6))
– plausibel erscheint es allemal, wenn man an
Meldungen(7)
wie die folgende denkt):
»Im März 2019 verbrannten katholische Priester in Polen Bücher, darunter auch „Harry Potter“-Bände
der britischen Autorin J.K. Rowling. „Wir gehorchen dem Wort Gottes“, erklärten die Priester der
Gruppe Fundacja SMS Z Nieba in einem Facebook-Post, der Fotos der Bücherverbrennung zeigte
und aus dem Alten Testament zitierte. Auf den Bildern war zu sehen, wie drei Geistliche einen Korb
voller Bücher und anderer Gegenstände zu einem Feuer tragen. Die Fotos zeigten zudem,
wie die Priester Gebete vor den Flammen sprechen«.
Als der Spiegel(8)
dies am 1. April 2019 publizierte, hätte man das zunächst noch für einen Aprilscherz halten können,
doch tags darauf wurde es aufgrund vatikanischer Kritik als real
bestätigt(9).
Sollte ich nun in mich gehen und fragen, ob das von einer generellen aversion gegen Polen herrühren könnte? –
Gewiss tut es das nicht! Es ist reiner Zufall, dass ich gerade auf solche Aktionen polnischer Herkunft stieß
(und es waren nicht die einzigen(10)).
Das Video zeigt einen polnischen Nationalisten, der ein Buch aufspießt, das den Schutz der Rechte der Juden in Polen symbolisiert.
Der polnische Nationalist Wojciech Olszański tränkte es dann in Öl und steckte es in Brand.
Als er das Buch verbrannte, rief die Menge laut der Jewish Telegraphic Agency „Tod den Juden“.
Ein in den sozialen Medien geteiltes Video zeigt polnische Nationalisten bei
einer Kundgebung, die ein Buch verbrennt,
das das Recht auf Leben in Polen für
Juden symbolisiert.
Das Video zeigt eine Kundgebung in Kalisz am Donnerstag, bei der der
rechtsextreme Aktivist Wojciech Olszański ein rotes Buch hochhält
und es durch
einen Stock eines anderen Teilnehmers spießt. Olszański tränkt das Buch dann in
etwas, das wie Öl aussieht und zündet es an.
“Tod den Juden”, rief die Menge laut
Jüdische Telegrafieagentur (s.u.), ein Nachrichtendienst, der international von jüdischen Medien genutzt wird.
Das Buch verewigt ein Dokument aus dem Jahr 1264, das den Judenschutz
und das Recht auf Leben in Polen garantiert.
Das Statut wurde von Fürst Bolesław
dem Frommen unterzeichnet und begründete eine formelle Rechtsstellung zwischen
Juden und Nichtjuden.
“Das Statut befasste sich mit Fragen der Autorität über die jüdische
Bevölkerung und definierte Regeln, nach denen Juden Kredite und Handel
betreiben
durften, sowie Normen in Bezug auf ihre Beziehungen zu Christen”, erklärte eine
Ausstellungsseite (s.u.) aus dem Museum
der Geschichte der polnischen Juden. “Das
Statut sah Strafen für die Schändung eines jüdischen Friedhofs oder einer
Synagoge vor.
Es enthielt auch Bestimmungen über Blutverleumdung gegen Juden.”
Die Kundgebung war eine von vielen Veranstaltungen, die polnische
Nationalisten zum Gedenken an den Nationalen Unabhängigkeitstag im Land,
den
Jahrestag der Souveränität Polens, geplant hatten, berichtete JTA.
Die Bücherverbrennung schockierte die Beobachter. Rafal Pankowski, einer der
Anführer einer prominenten Anti-Rassismus-Gruppe in Polen,
sagte gegenüber JTA,
dass ihn dies an die Bücherverbrennung während des Nazi-Deutschlands erinnerte
Studenten verbrannten fast 25.000 “undeutsche” Bücher.
“Nachdem ich den Antisemitismus seit mehr als 25 Jahren beobachtet habe, habe
ich so etwas noch nie gesehen”, sagte Pankowski gegenüber JTA.
https://www.jta.org/2021/11/12/global/death-to-jews-polish-radicals-shout-while-burning-jewish-book-at-a-nationalist-rally
‘Death to Jews,’ Polish nationalists shout at rally while burning book about
Jews in Poland
By Cnaan Liphshiz November 12, 2021 1:30 pm
Nationalist rally-goers burn a book in Kalisz, Poland, Nov. 11, 2021. (Karolina
Pawliczak/Twitter)
(JTA) — Polish nationalists shouted “death to Jews” as they burned a book
representing a historic pact protecting the rights of Poland’s Jews.
The book burning Thursday at a rally in Kalisz, a city of about 100,000
inhabitants situated 120 miles southwest of Warsaw, was part
of a series of nationalist events on Nov. 11, National Independence Day, which
is the anniversary of when Poland regained its sovereignty in 1918.
Videos and eyewitness accounts on social media show that Wojciech Olszański, a
far-right activist, lit a red-covered book that was meant
to symbolize the Statute of Kalisz. The document issued in 1264 by Prince
Bolesław the Pious regulated the legal status of Jews living in Poland
and afforded some protection through penalizing attacks on them. The statute
served as the legal foundation for relations between non-Jews
and Jews in Poland for centuries later.
Olszański poured a flammable liquid on the book that had been skewered on a
sharp metal object, and lit the book on fire as the crowd
cheered and shouted, “Death to Jews.” Some also chanted: “No to Polin, yes to
Poland.” “Polin” is both the Hebrew-language name for Poland
and the name of the main Jewish museum in Warsaw.
“This is a scary and symbolically important event,” said Rafal Pankowski, a
leader of Poland’s Never Again anti-racism group. He compared the rally
to the burning of books in Nazi Germany, including on the Kristallnacht pogroms
in 1938. The pogroms’ 83rd anniversary was Wednesday.
“Having monitored antisemitism for more than 25 years, I have never seen
anything like that,” Pankowski told the Jewish Telegraphic Agency.
Police are studying the footage, the PAP news agency reported.
“These pictures send shivers down the spine,” Katharina Von Schnurbein, the
European Union coordinator for fighting antisemitism, wrote on Twitter.
Other large nationalist events took place across major Polish cities in the past
few days. One of the main themes in the marches concerned
the current crisis in relations between Belarus and Poland. In recent days,
Belarus’ dictator, Alexander Lukashenko, has been encouraging immigrants
to cross from his country into Poland and the European Union, allegedly to
punish Poland and other countries for harboring Belarussian dissidents.
Poland’s right-wing government is refusing to let in the immigrants, who include
Afghan asylum seekers.
On 16 August 1264, in the town of Kalisz, prince Bolesław the Pious issued a
statute (charter) for Jews living in Greater Poland,
which was under his rule. This piece of legislation, approved in the 14th
century by Casimir the Great and then confirmed by subsequent
rulers of the Polish-Lithuanian Commonwealth (Stanisław August being the last of
them), was intended as the core document regulating
the legal status of Jews in Poland for many centuries.
The Statute tackled the issues of authority over the Jewish population and
defined rules under which Jews were allowed to engage
in lending and trade, as well as norms related to their relations with
Christians. The Statute provided for penalties for desecration of a
Jewish cemetery or a synagogue. It also contained provisions concerning blood
libel directed against Jews.
Confirmed by subsequent rulers, the Statute of Kalisz became a symbol of Jews’
safe living in Poland.
The original document, modelled after similar acts adopted by rulers of Bohemia
and Hungary, has not survived. In 1928, Artur Szyk (1894–1951),
a painter from Łódź, published a bibliophile edition of the Statute of Kalisz
dedicated to Józef Piłsudski.
The edition contains the text of the Statute in nine languages: Latin, Polish,
Hebrew, Yiddish, French, English, German, Italian and Spanish,
with Szyk’s illustrations. The miniatures either relate directly to specific
articles in the document, or illustrate some events from the
thousand years of Jewish history in Poland.
The copy presented at the exhibition was donated to the Museum by Maciej Knothe.
Mai 1989. Soeben war Art Spiegelmans erster Teil von Maus auf Deutsch erschienen, eine Graphic Novel
über die Lebens- und Überlebensgeschichte seines Vaters während des Holocaust. Ich war gerade wegen
Arnulf Rainers Guggenheim-Ausstellung in New York und rief beim Verlag an, ebenso in der School of Visual Arts,
wo der berühmte Comiczeichner damals unterrichtete. An beiden Orten deponierte ich mein Interesse
an einem Interview, machte mir aber in Wahrheit wenig Hoffnung auf einen Termin.
Eine junge, unbekannte, freiberufliche TV-Journalistin aus Österreich? No chance.
Am nächsten Morgen läutete das Telefon, Art Spiegelman lud mich noch für den gleichen Nachmittag
zu sich nach Hause in Soho ein. Er arbeite gerade am zweiten Band From Mauschwitz to the Catskills,
da käme ihm eine kleine Unterbrechung gar nicht ungelegen. „Austrian TeeVee! Hunh! Dad would’ve been proud“,
wird er später einer Zigarette rauchenden Maus auf einer mir gewidmeten, rasch hingeworfenen Zeichnung in die
Sprechblase legen.
Juden als Mäuse, Deutsche als Katzen, Polen als Schweine (was übrigens zu Verbrennungen des Buches in Polen führte),
Briten als Fische, Franzosen als Frösche und Schweden als Rentiere: Dass Spiegelman den Horror der Nazizeit als Comic
verarbeitete, war ein Tabubruch; dass er ihn darüber hinaus auch als Fabel erzählte, war das gleichermaßen Faszinierende
wie Verstörende, stieß auf begeisterte Zustimmung ebenso wie auf radikale Ablehnung. Die einen fanden,
dass der Holocaust verniedlicht würde; die anderen sahen in der Verfremdung die einzig mögliche Form,
den Wahnsinn auszudrücken. 1992 wurde Maus mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, erstmals ging diese
hohe literarische Anerkennung an einen Comic-Autor.
Menschen mit Masken
„Für mich“, sagt er an diesem lauen, frühsommerlichen New Yorker Nachmittag, „sind meine Charaktere nicht Tiere,
sondern Menschen mit Masken. In einigen Abschnitten, wo die Schnüre der Masken hinunterbaumeln, wird das sehr
offensichtlich. Diese Tiermasken waren für mich essenziell, denn es war zu schmerzhaft, direkt an all diese schrecklichen
Geschehnisse zu denken, die meinen Eltern, den europäischen Juden widerfahren sind. Die Masken erlaubten mir
eine momentane Distanz. Aber Sie haben recht“, antwortet er auf meine Frage, wie er die Kontroversen um sein Comicbuch
beurteile und ob er seine Kritiker, die Maus als ungehörige Verharmlosung bezeichneten, verstünde: „Hätte ich das Buch
nicht selber gemacht, sondern mir jemand davon erzählt, würde ich die Idee, ein Comicbuch über den Genozid zu machen,
noch dazu mit Tieren, vermutlich auch für eine schreckliche Idee gehalten haben. Aber es war für mich ein organischer
und natürlicher Prozess. Ich wollte weder schockieren noch die Geschichte vergewaltigen. Es war ein natürlicher Vorgang,
auch, weil ich Comics nie als niedrige Kunstform gesehen habe. Ich weiß, andere Menschen tun das. Ich erachte Comics
als demokratische Kunstform, die nicht mit Hochkultur-Allüren daherkommt. Für mich sind Comics Worte. Und Bilder.
Und ich glaube, dass man ausgerechnet mit einem Comic all die furchtbaren Dinge eher erzählen kann als mit Malerei
oder Literatur, denen immer eine ästhetische Überfrachtung immanent ist.“
Im Klartext
Im Alter von sieben Jahren entdeckte der 1948 in Stockholm geborene Sohn der Holocaust-Überlebenden Wladek
und Andzia Spiegelman den Witz und die subversive Kraft, die etwa in den Bildern der Comiczeitschrift MAD steckten.
Bereits mit 17 zeichnete er eigene Comics für die Long Island Post; und nachdem er sein Studium an der New Yorker
High School of Art and Design nach nur zwei Jahren abgebrochen hatte, wurde er von Wallace Wood für das legendäre
Witzend engagiert. Der spätere Comicprofessor zeichnete für Erotikzeitschriften und Undergroundmagazine, ehe er
gemeinsam mit seiner französischen Frau, Françoise Mouly, zwischen 1980 und 1991 das großformatige, avantgardistische
Comicmagazin RAW herausgab. Er gestaltete aufsehenerregende Titelblätter für das Wochenmagazin The New Yorker,
kündigte aber aus Protest gegen den „War on Terror“ kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, die er
in der Comicserie Shadows of No Towers (Im Schatten keiner Türme) verarbeiten sollte – so dokumentarisch genau
wie auch Maus. Sein Markenzeichen: keine literarische Überhöhung, sondern Klartext. Das menschliche Schicksal
jedes Einzelnen lehrt Geschichte.
Maus ist nicht nur die erschütternde Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel Europas, sondern auch mit
der konfliktbeladenen Beziehung zu seinem Vater, die nach dem tragischen Suizid der durch Auschwitz schwer
traumatisierten Mutter im Jahr 1968 noch problematischer wurde. „In mancher Hinsicht entspricht er genau der
antisemitischen Karikatur des alten geizigen Juden“, heißt es einmal in Maus.
Schweigender Zuhörer
Art Spiegelman erhebt sich von seinem ledernen Clubsessel, geht zu einer Kommode, startet das Tonbandgerät.
Zu hören: Spiegelmans 1982 verstorbener, hassgeliebter Vater Wladek. Mit monotoner, müder Stimme erzählt er
vom Aufstand im Ghetto, von der systematischen Ausrottung der polnischen Juden, von der Vernichtungsmaschinerie
der Nazis, aber auch von Liebe, Sehnsucht, Lebenswillen. Das gebrochene Englisch des Vaters, seinen jiddischen Akzent,
übertrug der Sohn auch in den Comic und zeigte sich zufrieden, dass es auch in der deutschen Übersetzung bewahrt wurde:
„Ich wollte das unbedingt, weil er erstens so sprach. Und zweitens, weil es den Aussagen eine neue, andere Bedeutung gibt,
wenn man sie in einer Stimme hört, die nach Worten ringt und Schwierigkeiten hat, sich in der neuen Sprache zurechtzufinden.
Das erlaubt eine Aktualität hinter den Worten.“
Diese Erzählsituation – der sich erinnernde Vater Wladek, der ihm zuhörende und immer wieder nachfragende Sohn Artie –
unterbricht immer wieder die „Geschichte eines Überlebenden“, wie Maus im Untertitel heißt. „Vielleicht war das
die wichtigste Motivation für das Buch: Wenn ich zu meinem Vater zurückkehre und ihn interviewe, habe ich die Möglichkeit,
mit ihm zu reden, kann aber gleichzeitig journalistische Distanz wahren. Das half! Wenn wir das Thema wechselten,
stellte sich allerdings schnell heraus: Es gab zu viele Schwierigkeiten zwischen uns. Aber er mochte die Tatsache,
dass ich dasaß und schweigend zuhörte. Auch wenn das, worüber wir sprachen, nicht gerade das war, was er gern erzählte.
Sicher war es schmerzhaft“, sagt Spiegelman und zündet sich eine Zigarette an, was in New York auch Ende der Achtzigerjahre
Jahre schon fast als subversiver Akt gelten konnte. (Ronald Lauder etwa ließ damals, als er anlässlich von Rainers Guggenheim-Schau
österreichische Kunstfreunde in sein Domizil auf der Upper East Side einlud, vorsichtshalber Täfelchen aufstellen mit der Aufschrift:
„Don’t smoke at the Lauders“).
israelogie.de/antisemitismus/wie-gelingt-eine-literarische-verarbeitung-der-shoa-im-comic-einfuehrende-bemerkungen-zu-art-spiegelmans-maus/
(7.2.21)
7. Februar 2021, von Tianji Ma
Wie gelingt eine literarische Verarbeitung der Shoa … im Comic?
– einführende Bemerkungen zu ART SPIEGELMANS „MAUS“
Wenn es etwas gibt, das Unvorstellbares adäquat zum Ausdruck bringen kann, dann ist es die Kunst.
Wenn es etwas extrem Unvorstellbares in der Weltgeschichte gibt, dann die Katastrophe der Shoa.
Diese Aussagen sind keine Übertreibung. Der amerikanische Comic-Autor mit jüdischen Wurzeln, Art Spiegelman,
nahm diese Mammutaufgabe in Angriff, (Comic-)Kunst und die Shoa miteinander zu verknüpfen.
Wirklichkeit und Fiktion werden miteinander verwoben, um das Unaussprechbare zu vergegenwärtigen.
Shoa…
Die heute weltweit gebräuchlichste Bezeichnung für den Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden
ist bekanntermaßen der Begriff Holocaust (altgr. ὁλόκαυστος = „vollständig verbrannt“). Trotz der weltweiten Verbreiterung dieses Ausdrucks
wenden sich Kritiker massiv gegen diese Bezeichnung. Denn: dieser Begriff würde das historisch einzigartige Verbrechen der Nationalsozialisten
an den Juden verharmlost wiedergeben. Stattdessen wurde ein hebräisches Substantiv bevorzugt, das bereits während der Judenvernichtung
von jüdischen Zeitzeugen verwendet wurde – שׁוֹאָה Shoa („Sho’ah“, „Schoa(h)“). In der Bibel bezeichnet es ursprünglich eine ausländische
Bedrohung des Volks Israel (Jes 10,3), was als „Unheil“, „Zerstörung“, „Katastrophe“ übersetzt werden kann.
Die wahnsinnige Gräueltat der Shoah sprengt die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens: 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden
fielen während der NS-Zeit zum Opfer. Es waren der staatlich propagierte Antisemitismus und die entsprechende rassistische Gesetzgebung
des NS-Regimes, welche diese systematische Ermordung der Juden einleiteten. Seitdem ringen und bemühen sich die Zeitzeugen und die Nachwelt
um ein angemessenes Erinnern und Verarbeiten dieses einzigartigen Menschheitsverbrechens. Was kann überhaupt als ein angemessener Zugang
für die heutige Generation zu etwas so Unvorstellbarem dienen, das sich sprachlich dermaßen schwer begreifen und in Worte fassen lässt?
Kann es überhaupt eine Form geben, diese Gräuel irgendwie passend darzustellen, mit Hilfe von Kunst oder künstlerischer Expression?
… und Comic
Einen literarisch-künstlerischen Versuch, das Unvorstellbare verständlich zu machen, unternahm der vielfach ausgezeichnete amerikanische
Cartoonist und Comic-Autor Art Spiegelman. Als Sohn von Władysław „Władek“ und Andzia Spiegelman wurde er in Stockholm, Schweden,
am 15. Februar 1948 geboren. Seine Eltern, die während der NS-Zeit im März 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, überlebten.
Nicht jedoch ihr erster Sohn Rysio und der Großteil ihrer Angehörigen und Freunde. Über Schweden gelang es der Familie Spiegelman
1951 in die USA auszuwandern. In New York ließ sie sich nieder, wo die Familie es zu Wohlstand brachte.
Bereits im frühen Alter entdeckte Art die Magie der Comic-Welt mit der Zeitschrift „Mad“ und Veröffentlichungen von EC Comics,
einem renommierten New Yorker Comicverlag. Als später seine Mutter sich das Leben nahm, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen,
verarbeitete der damals 20-jährige Spiegelman das traumatische Geschehen in der Comic-Story Prisoner on the Hell Planet.
Ab den 80er Jahren gab er zusammen mit seiner Frau, der französischen Architekturstudentin Françoise Mouly, das vielgelobte großformatige Comic
Avantgarde-Magazin RAW heraus. Darin veröffentlichte er seine erste große Graphic Novel mit dem Titel „Maus. A Survivor’s Tale“
(deutsch: Maus – Die Geschichte eines Überlebenden), eine künstlerische Verarbeitung der Erfahrungen und Erinnerungen seines Vaters an die Shoa.
Seitdem erlangte Art Spiegelman große Berühmtheit. „Maus“, heute längst ein Klassiker, wurde sogar mit dem renommierten Pulitzer Preis bedacht
– ein Novum für ein Graphic Novel. Aber: obwohl Spiegelmans „Maus“ bereits vor über 30 Jahren in deutscher Übersetzung erschien,
bleibt dessen Bekanntheit in Deutschland bescheiden.
Comic-Maus als künstlerischer Zugang zur Schoa In der Rahmenhandlung des Comics erzählt Spiegelmans Vater seinem Sohn die Geschichte eines Überlebenden, wie das Buch im Untertitel ja auch heißt.
Der autobiographische Comic behandelt sowohl die Shoa als Thema an sich, die schmerzhafte Erinnerung daran, wie auch die traumatisierende Auswirkung
bis in die Gegenwart hinein. Die Geschichte hat dabei die Gestalt einer Fabel. Auf ungewöhnliche Weise wird Hitlers Zitat in Anlehnung an die NS-Propaganda
vom „jüdischen Ungeziefer“ vorangestellt: die Juden seien zweifellos eine Rasse, nur keine menschliche.
Vor dem Hintergrund dieses grotesken Untertons werden die Geschichten von anthropomorphen Tieren (menschliche Körper, tierische Köpfe) ausgemalt.
Spiegelman zeichnet sich und seine Eltern als Mäuse, die Deutschen als jagende Katzen, die Amerikaner als Hunde, die Polen als Schweine
(was aufgrund der Missinterpretation zum Boykott des Buches in Polen führte), die Franzosen als Frösche, die Briten als Fische.
Ironisch macht sich Spiegelman das entmenschlichende Denken des NS mittels dieses künstlerischen Griffs zu eigen. Auf der anderen Seite
wahrt die provokante Tiermetaphorik den Abstand zu den kaum aussprechbaren Gräueltaten und macht diesen emotional „ertragbar“.
Spiegelman kommentiert: “I need to show the events and memory of the Holocaust without showing them. I want to show the masking of these events
in their representation.” Mit einem solchen Verfremdungseffekt verweist Spiegelman auf das beunruhigende Unvermögen, die Absurdität und Brutalität
vor den Augen der Nachwelt darstellen zu können – und schafft es doch.
Lücke im deutschen Lehrplan
Spiegelmans „Maus“ ist ein internationaler Erfolg geworden. Heute gilt die Graphic Novel in amerikanischen Schulen als Standardwerk.
Ihre Bekanntheit, sogar im fernen Osten, etwa in China, ist beachtlich. Dagegen erhielt sie in Deutschland und im deutschen Schulwesen
bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Warum eigentlich? Die alte Kontroverse kann einen Teil der Erklärung liefern: Inwiefern ist es legitim,
die Judenverfolgung und -vernichtung fiktional und in Comicform zu verarbeiten? Besteht nicht die Gefahr, dass Comic-Bilder das unvorstellbare
Geschehen verharmlosen, vereinfachen und trivialisieren? Noch 1995 wurde ein für den Comic-Salon Erlangen hergestelltes Plakat zum Comic „Maus“
beschlagnahmt. Insbesondere in den 90er Jahren sprachen sich Prominente aus der akademischen Welt, wie Elie Wiesel, Berel Lang, James E. Young,
gegen die Literarisierung des Holocausts aus. Stattdessen sollten Dokumentationen und historische Schreiben (z.B. Memoiren) im Vordergrund stehen
– eine „klare“ Botschaft, die auch Einflüsse auf die Lehrpläne an deutschen Schulen ausübte.
Eine im Jahr 2017 erschiene Studie des Politikwissenschaftlers Philipp Mittnik über die Holocaust-Darstellung in Schulbüchern zeigt aktuelle Tendenzen auf:
Zwar wird die Shoa im deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht geringfügig mehr als früher thematisiert, jedoch auffällig häufig aus deutscher,
nichtjüdischer Perspektive erzählt, etwa im Zusammenhang mit dem Widerstand im NS. Eine ältere Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale
Schulbuchforschung von 2013 hielt fest: Es wird zu wenig Literatur zur Schoa gelesen; die Ermordung der Juden bleibt eine Leerstelle.
Diese Bildungslücke könnten literarische Verarbeitungen in einer Kunstform, wie „Maus“ schließen. Sie führt nicht nur das grotesk-grauenhafte Bild der Shoa
deutlich vor Augen, behandelt zudem das Trauma der nachfolgenden Generationen und erschließt einen angemessenen Zugang für heutige Jugendliche.
Das Attraktive und Faszinierende bei „Maus“: sie ist eine Graphic Novel – ein Medium zwischen Unterhaltung und mahnender Erinnerung.
Diese künstlerische Darstellung kann angemessen das Interesse der Jugendlichen an den Originalquellen wecken. Dietrich Grünewald, Professor
für Kunstdidaktik in Koblenz, fasst in seinem Vortrag „Holocaust und NS-Verbrechen in der Bildgeschichte“ zusammen: „Comics dürfen auch spannend
und unterhaltsam sein, sollen […] aber auch schockieren. […] Es ist richtig und nötig, der jungen Zielgruppe Historie zuzumuten.“ Allerdings müssen sie
wie alle anderen Texte angemessen interpretiert werden. Zweifellos bleibt: Art Spiegelmans Graphic Novel „Maus“ stellt einen beeindruckenden
und gelungenen Versuch dar, das grauenhaft Unvorstellbare verständlich zu machen. Und sie verdient deshalb mehr Beachtung und Aufmerksamkeit
im deutschsprachigen Schulunterricht.
Spiegelman, Art, Maus, Übers. Christine Brinck / Josef Joffe, Berlin 2008
Tianji Ma
Quellen
Frahm, Ole: Das weiße M. Zur Genealogie von
MAUS(CHWITZ), in: Überlebt und unterwegs: Jüdische Displaced Persons im
Nachkriegsdeutschland.
Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Hg. Fritz Bauer
Institut, Frankfurt 1997, 303–340
Frahm, Ole: Genealogie des Holocaust. Art
Spiegelmans „MAUS, A Survivor’s Tale“, Paderborn 2006
Frahm, Ole: Mäuse, Mickey und MAUS. Zur
Ästhetik von Art Spiegelmans Darstellung des Holocaust, in: Superman und Golem.
Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung Jüdisches Museum, Hg. Raphael Gross /
Erik Riedel, Frankfurt (M) 2008, 42–44
Art Spiegelmans Graphic Novel „Maus“ ist vom Aufsichtsgremium einer
Schule in Tennessee vom Lehrplan entfernt worden. Der Grund:
zuviel obszöne
Sprache, zuviel Nacktheit, Darstellung von Suizid. In Zeiten, in denen
„Oliver Twist“ eine Lektürewarnung bekommt und
Shakespeare als
antisemitischer Rassist von Universitätslehrplänen gestrichen wird, war der
Bannfluch aus Tennessee wohl nur eine Frage der Zeit.
Einem vernünftigen Menschen könnte man die Argumentation zumuten, dass
beim Holocaust leider nicht allzeit auf höfliche Umgangsformen
Rücksicht
genommen wurde. Dass die Opfer in den Gaskammern ihrer grauenvollen
Ermordung allesamt ohne Kleider entgegen gingen.
Bewundernswert sachlich: Art Spiegelmans „Maus“
Quelle: picture alliance / dpa
Und dass Selbstmorde aufgrund des Erlebten gerade bei Überlebenden der Shoah
ein fürchterliches, doch leider nur zu reales Syndrom darstellen.
Primo Levi
oder Jean Améry stehen da nur für die Spitze eines Eisbergs. In Spiegelbergs
Meisterwerk zeichnet und beschreibt der
Autor
mit bewundernswerter Sachlichkeit die Selbsttötung der eigenen Mutter,
die nach Auschwitz nicht mehr weiterleben konnte.
All das scheint die um die moralische Unversehrtheit ihrer Sprösslinge
besorgten Schulverwalter in Amerikas tiefem Süden nicht beeindruckt zu haben.
Ihr Säuberungsfuror mag Achtklässlern das wohl schwärzeste Kapitel der
Menschheitsgeschichte nicht mehr zumuten, jedenfalls lieber ohne Drastik.
Geschichtsschreibung unter Beschuss
Dafür kann seit Neuestem im nahegelegenen Kentucky ein riesiger Nach- oder
vielmehr Neubau der hölzernen Arche Noah besichtigt werden,
mit welchem
Kreationisten zu beweisen versuchen, dass gemäß der biblischen Erzählung
sämtliche Tierarten per Boot über die Sintflut hinweg geschippert sind.
Wo Charles Darwins Evolutionslehre es im Schulunterricht immer schwerer hat,
kommt nun auch die Geschichtsschreibung
– sei es in künstlerisch animierter
Gestalt – unter Beschuss. Die wissenschaftlich untermauerte Geschichte von Natur
und Zivilisation wird stückweise umgeschrieben.
Immerhin traten nun in direkter Nähe der besagten McKinn-County-School
Gegenredner des erwachten Zensurwahns auf den Plan.
Ein Buchhändler rief zum
Crowdfunding auf, um für Schüler im Landkreis Exemplare von „Maus“ zur Verfügung
zu stellen – und bekam schnell
30.000 Dollar zusammen. Spiegelman bedankte sich
prompt für die Unterstützung und verwies auf das
Publikationsverbot von „Maus“ in Russland;
Präsident Putin hatten im Jahr
2015 die bis aufs Titelbild wuchernden Hakenkreuze missfallen, wie sie bei einer
Erzählung aus dem besetzten Polen
um 1940 nun einmal schwer aus dem Blickfeld zu
verschieben sind.
Aufklärerische Gegenoffensive
Und ähnlich wie in Russland vor sieben Jahren, als die gesamte Auflage nach
Putins Druckverbot sich in Windeseile verkaufte, erlebt nun auch „Maus“
weit
über die USA hinaus einen verdienten Boom. Die Graphic Novel, die 1992 mit dem
Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, geht momentan mit ihrer
zeitlosen
Sichtbarmachung des Grauens und dessen psychischen Folgen weg wie warme Semmeln.
Und das nationale Holocaust-Museum in Washington
gab eine Erklärung heraus:
„Maus“ spiele eine vitale Rolle bei der Behandlung des Holocaust im
Geschichtsunterricht: „Bücher wie dieses können Schüler
inspirieren, kritisch
über die Geschichte und ihre eigene Rolle und ihre Verantwortung heute
nachzudenken.“
Pulitzer-Preisträger Art Spiegelman,
Quelle: Getty Images
Während Art Spiegelman jetzt gemeinsam mit Geschichtslehrern und
-professoren digitalen Nachhilfeunterricht über sein Jahrhundertwerk
anbietet,
gibt es wenig genug Grund, angesichts der aufklärerischen
Gegenoffensive zum unhistorischen Dunkelmännertum erleichtert
aufzuatmen.
Die Frage ist vielmehr: In welcher postrationalen Epoche
leben wir eigentlich? Was sagt es über unser Selbstbild, wenn brutale
oder obszöne Fakten
der ganz und gar nicht harmonischen Historie unserer
Spezies nicht mehr ausgesprochen werden dürfen? Den beschränkten
Schulkommissaren aus Tennessee
mag es um den Bann des Fluchens und der
Nacktheit gegangen sein, die allesamt nicht im Einklang mit ihrer
Frömmigkeit stehen.
Doch beim Indizieren, Verbieten oder Verbrennen missliebiger
Überlieferungen geht es um viel mehr. In Wahrheit richtet sich die
Zensur
und das reflexhaft prüde Canceln von Unerwünschtem gegen die
Geschichte selbst – so näherungsweise wir immer aufs Neue an sie
herankommen.
Auf diese Weise ersteht ein harmonisches Weltbild. Die
Vergangenheit würde in Unterricht und Abendlektüre so friedlich wirken
wie sie niemals war.
Und wären erst einmal alle Bücher wie „Maus“ aus dem Lehrplan
verschwunden, dann hätte es auch für die Klassenbesten und Fleißigsten
jeder Schulklasse den
Mord an sechs Millionen Juden niemals gegeben.
Genauso haben es sich auch die Bücher verbrennenden Nationalsozialisten
vorgestellt,
als sie die Vernichtungslager einebneten und sprengten, als
sie die Asche der Ermordeten in Flüsse schütteten oder noch Monate
später die Leichen
zu hunderttausenden verbrannten. Was niemand sieht,
was niemand ausspricht, wovon es kein Bild gibt und woran sich niemand
erinnert, das hat es nie gegeben.